3. Rechnungslegungsvorschriften: Obligationenrecht und anerkannte Standards der Rechnungslegung, Unterschiede und Gemeinsamkeiten

1. Handelsrechtliche Rechnungslegungsvorschriften (Vorschriften des Obligationenrechts

a) Grundlagen, neues Rechnungslegungsrecht

Die Vorschriften des neuen Rechnungslegungsrechts sind auf den 1. Januar 2013 in Kraft getreten

b) Die Grundsätze ordnungsmässiger Rechnungslegung

Das neue Rechnungslegungsrecht verweist für die Ausgestaltung der Rechnungslegung in Art. 958c OR auf die Grundsätze ordnungsmässiger Rechnungslegung, die dann Anwendung finden sollen, wenn sich dem Gesetz keine verlässliche Antwort entnehmen lässt. Mit diesem dynamischen Verweis auf die Grundsätze ordnungsmässiger Rechnungslegung soll sichergestellt werden, dass das Rechnungslegungsrecht immer der aktuellen und als pflichtgemäss verstandenen Praxis entspricht.Als Quelle für die Grundsätze ordnungsgemässer Rechnungslegung wird zum einen das Schweizer Handbuch der Wirtschaftsprüfung (HWP) beigezogen, das Standardwerk für Lehre und Praxis.Es stellt sich die Frage, inwieweit auch die Vorschriften der IFRS für die Feststellung der Grundsätze ordnungsgemässer Rechnungslegung und der einzelnen Vorschriften beigezogen werden können, die sich daraus ergeben (vgl. Ziff. 2.3.2).

2. Anerkannte Standards der Rechnungslegung

a) Grundlagen

Anerkannte Standards der Rechnungslegung sind durch private Organisationen erlassen Normen der Selbstregulierung. In der schweizerischen Praxis sind die Swiss GAAP FER und die IFRS wichtig. Teilweise wird deren Verwendung auch rechtlich vorgeschrieben, so für börsenkotierte Konzerne, die ihre konsolidierte Konzernrechnung nach anerkannten Standards erstellen müssen. Das führt dazu, dass diese Normen der Selbstregulierung als Folge der obligatorischen Anwendung zu mittelbarem Gesetzesrecht werden. Die genauen Auswirkungen dieses Verweises werden im Rahmen des Teilprojektes A „Einfluss der IFRS auf die handelsrechtlichen Rechnungslegungsvorschriften“ genauer untersucht (vgl. Ziff. 2.3.2).

Die IFRS sind nicht nur Normen der internationalen Selbstregulierung, sondern sie sind auch EU-Recht. In der Europäischen Union wird die Massgeblichkeit der IFRS nicht durch einen Verweis auf deren jeweils aktuellen Stand erreicht, sondern durch die Übernahme der einzelnen Vorschriften in das EU-Recht.

b) Swiss GAAP FER

Die Swiss GAAP FER sind ein Rechnungslegungsstandard für mittlere und grössere Unternehmen. Die Rechnungslegung nach Swiss GAAP FER soll ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage (true and fair view) vermitteln. Sie regeln die Kernfragen der Rechnungslegung. Die Regelungsdichte ist geringer, als bei den IFRS; nicht behandelte Fragestellungen sind im Sinne des Oberziels True and Fair View zu lösen (was zur Frage führt, ob IFRS-Regeln beigezogen werden müssen, wenn die Swiss GAAP FER Regeln Lücken aufweisen). In der schweizerischen Praxis spielen die Swiss GAAP FER eine grosse Rolle; sie werden auch im Rahmen des Forschungsprojektes thematisiert, allerdings immer im Vergleich mit den analogen Vorschriften der IFRS.

c) IFRS
aa) Grundlagen

Bis März 2002 wurden die IFRS als „International Accounting Standard“ (IAS) bezeichnet. Inzwischen werden sie unter dem Titel „International Financial Reporting Standards“ (IFRS) herausgegeben. „IFRS“ ist zugleich der Oberbegriff für das Gesamtwerk aller vom Regelungsgeber International Accounting Standards Board (IASB)

erlassenen Rechtsvorschriften. Der International Accounting Standards Board (IASB) ist eine private Organisation; die IFRS sind vor allem Normen der (internationalen) Selbstregulierung. Die IFRS bestehen aus verschiedenen einzelnen Standards. Jeder dieser Standards behandelt ein bestimmtes Teilgebiet der Rechnungslegung.

bb) EU-IFRS

Kapitalmarktorientierte Unternehmen haben in der EU seit 2005 ihre Konzernabschlüsse nach IFRS zu erstellen. Die Übernahme der IFRS als EU-Recht erfolgt nicht durch eine direkte Verweisung auf die jeweils aktuellen IFRS, sondern durch eine Art autonomer Nachvollzug. Das hat zur Folge, dass Änderungen in den IFRS fortlaufend in das EU-Recht übernommen werden müssen. Das führt zwangsläufig zu Unterschieden, sei es als Folge einer verzögerten Übernahme oder als Folge des Verzichts, bestimmte Entwicklungen ebenfalls nachzuvollziehen. Für die durch die EU übernommenen IFRS kann der Begriff „EU-IFRS“ verwendet werden, um die übernommenen Bestimmungen besser von den IFRS abzugrenzen. Die Übernahme der IFRS in die EU-IFRS führt dazu, dass die IFRS nicht nur Normen der Selbstregulierung sind, sondern europäisches Recht, deren Einfluss in die schweizerische Rechtsordnung allenfalls anderen Regeln folgt, als der Einfluss internationaler Normen der Selbstregulierung. Es stellt sich auch die Frage, welche Normen in der Schweiz anwendbar sind, wenn sich IFRS und EU-IFRS inhaltlich unterscheiden.

3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der OR-Rechnungslegung und den IFRS

a) Gemeinsamkeiten

Die Rechnungslegung muss so ausgefertigt werden, dass sie „eine möglichst zuverlässige Beurteilung der Vermögens- und Ertragslage“ ermöglicht. Diese Zielsetzung besteht in der OR- und IFRS Rechnungslegung gleichermassen; die Umsetzung, vor allem der Detaillierungsgrad der Rechnungslegung ist allerdings unterschiedlich. Der tiefere Detaillierungsgrad der OR-Rechnungslegung ermöglicht Saldierungen und Verrechnungen, die dazu führen können, dass negative Entwicklungen verschleiert werden können (vgl. nachfolgend b) aa).

Gemeinsam ist in allen Vorschriften der Grundsatz der Unternehmensfortführung (Going concern). Die Rechnungslegung beruht nach Art. 958a Abs. 1 OR auf der Annahme, dass ein Unternehmen für die nächsten zwölf Monate fortgeführt wird. Sollte die Fortführung nicht mehr möglich sein, muss die Bewertung umgestellt werden. Gemäss Art. 958a Abs. 2 OR sind in diesem Fall nicht mehr Fortführungs-, sondern Veräusserungswerte der Rechnungslegung zu Grunde zu legen. Dieser zentrale Grundsatz gilt auch in den IFRS. Die zwölf-Monats-Frist, in der die Fortführung möglich sein soll, wurde durch das neue Rechnungslegungsrecht letztlich aus den IFRS übernommen. Der Wechsel von Fortführungs- zu Liquidationswerten führt in den meisten Fällen zu einer Reduktion des Eigenkapitals. Zu den Grundsätzen ordnungsmässiger Rechnungslegung gehört weiter das Prinzip der sachlich und zeitlich konsequenten Periodenabgrenzung. Das neue Recht verlangt in Art. 958b Abs. 1 OR ausdrücklich, dass Aufwände und Erträge voneinander in zeitlicher und sachlicher Hinsicht abgegrenzt werden müssen. Der Grundsatz der Stetigkeit/Vergleichbarkeit verlangt, dass die Abschlüsse über die Zeit hinweg vergleichbar sein müssen.> Zum

Grundsatz der Stetigkeit gehört auch die Pflicht, Vorjahreszahlen anzugeben.28

b) Unterschiede
aa) transparenzbezogene Unterschiede

Unterschiede bestehen in den transparenzbezogenen Grundsätzen. Sicher kann festgehalten werden, dass die OR-Rechnungslegung weniger transparent ist, als die Rechnungslegung nach IFRS. Gestützt auf den Grundsatz der glaubwürdigen Darstellung müssen die offengelegten Informationen nach IFRS Geschäftsvorfälle und andere Ereignisse, die sie zum Inhalt haben, verlässlich darstellen. Aus diesem Grunde muss, eine vollständige, wahrheitsgetreue und systematische Erfassung aller Geschäftsvorfälle und Sachverhalte stattfinden. Jeder Buchungsvorgang muss mittels eines Belegs nachgewiesen werden. Abstrakt gelten diese Grundsätze auch unter dem Obligationenrecht, aber durch zahlreiche Ausnahmen, insbesondere im Zusammenhang mit stillen Reserven werden diese Grundsätze stark relativiert. Schliesslich untersagt das Saldierungsverbot die Zusammenfassung in der Vertikalen. Weiter sieht Art. 960 Abs. 1 OR vor, dass „Aktiven und Verbindlichkeiten […] in der Regel einzeln bewertet [werden], sofern sie wesentlich sind und aufgrund ihrer Gleichartigkeit für die Bewertung nicht üblicherweise als Gruppe zusammengefasst werden“. Durch die Formulierung „in der Regel“ wird zum Ausdruck gebracht, dass das Saldierungsverbot nicht absolut gilt und es ist zulässig Bewertungsgruppen zu bilden. In den IFRS gilt ein strenges Saldierungsverbot; insbesondere ist es untersagt, Aktiven, deren Wertentwicklung nicht gleichförmig ist, in einer Bewertungsgruppe zusammenzufassen. Die Bildung von solchen „Bewertungsgruppen“ war unter dem alten Rechnungslegungsrecht praktisch uneingeschränkt zulässig. Für das neue Recht ist die Frage noch ungeklärt; ihre Beantwortung hängt auch davon ab, inwieweit Grundsätze aus den IFRS zur Beantwortung dieser Frage beigezogen werden.

bb) vorsichtsbezogene Unterschiede

Der Grundsatz der Vorsicht verlangt eine besondere Sorgfalt in der Ermessensausübung von erforderlichen Schätzungen unter ungewissen Umständen, sodass Vermögenswerte oder Erträge nicht zu hoch und Schulden oder Aufwendungen nicht zu tief angesetzt werden. Oft entsteht ein Widerspruch zwischen dem Vorsichtsprinzip und der Zielsetzung der zuverlässigen Beurteilung der Vermögens- und Ertragslage. Nach dem Vorsichtsprinzip stellt sich das Unternehmen im Zweifelsfall eher ärmer dar als es in Wirklichkeit ist. Im Ergebnis führt das zur Bildung stiller Reserven.Das Vorsichtsprinzip ist ein wesentlicher Bewertungsgrundsatz in den Rechnungslegungsvorschriften des OR, aber nicht (ausdrücklich) der IFRS.

cc) Gegenüber den IFRS unvorsichtigere Regeln des handelsrechtlichen Rechnungslegungsrechts

Der Umstand, dass in der OR-Rechnungslegung der Vorsichtsgrundsatz dazu führen kann, dass bestimmte Vermögenswerte unter ihrem wirklichen Wert bilanziert werden, führt zum allgemeinen Verständnis, dass die Vorschriften des OR vorsichtig sind, die der IFRS aber eher nicht, weil sie anstreben, den wirklichen Wert der Aktiven zu zeigen. Das führe immer zum Risiko der Überbewertung und als Folge davon zu einer „unvorsichtigen“ Rechnungslegung.Diese Sichtweise „OR vorsichtig – IFRS nicht vorsichtig“ kann die beiden Normsysteme alleine nicht voneinander abgrenzen. Es gibt eine ganze Reihe von handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften, die den Vorsichts-Grundsatz verletzen und sogar noch unvorsichtigere Bewertungen zulassen, als sie nach den Vorschriften der IFRS möglich sind. Wertschriften können nach Obligationenrecht erfolgswirksam aufgewertet werden, auch wenn sie nicht zum Handel bestimmt sind; nach Regelwerkvorschriften ist eine erfolgswirksame Aufwertung von Wertschriften nur unter dieser Voraussetzung möglich. Nach Obligationenrecht werden Liberierungsansprüche aktiviert, während nach IFRS – vorsichtig – diese Aktivierung nicht erlaubt ist. Die Bildung von Bewertungsgruppen kann dazu führen, dass Wertverluste einzelner Aktiven verschleiert werden; diese Möglichkeit ist nach IFRS-Vorschriften nicht gegeben.