2. Grundlagen der Rechnungslegung: möglichst zuverlässige Beurteilung der Vermögens- und Ertragslage

1. Grundlagen

Primäres Ziel der Rechnungslegung ist es, den Adressaten der Jahresrechnung eine möglichst zuverlässige Beurteilung der Vermögens- und Ertragslage zu erlaubenund Informationen über die Vermögens- und Finanzlage, deren Veränderung, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und die Risikofähigkeit eines Unternehmens darzustellen. Der Grundsatz gilt für alle Unternehmen; seine Umsetzung ist Voraussetzung dafür, dass Gesellschafter ihre Mitwirkungs- und Vermögensrechte wahrnehmen können und schützt somit indirekt die Eigentumsgarantie. Gemäss Art. 716a OR gehört die Oberleitung, auch die finanzielle Oberleitung zu den nicht delegierbaren Pflichten des Verwaltungsrats. Diese Pflicht können Verwaltungsräte nur wahrnehmen, wenn sie die Vermögens- und Ertragslage und die (bilanzielle) Risikofähigkeit des Unternehmens verlässlich kennen und wissen, wie sich ihre Entscheide auf die Vermögens- und Ertragslage des Unternehmens auswirken.

Die Rechnungslegung ist weiter Voraussetzung für die Durchführung staatlicher Aufgaben. Sie ist Grundlage für die Steuerveranlagung und für die Erhebung von Abgaben im Sozialversicherungsbereich. Schliesslich führt die Rechnungslegung zu Transparenz und dazu, dass alle wirtschaftlichen Vorgänge im Unternehmen dokumentiert und belegt sind. Sie wirkt sich daher präventiv auf die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität aus, und ist ein wesentliches Hilfsmittel im Rahmen der Korruptionsbekämpfung.

Die Rechnungslegung dient somit auch dem öffentlichen Interesse, direkt als Anknüpfungspunkt für die Besteuerung und Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität, aber auch indirekt, weil sie dem Verwaltungsrat ein Instrument gibt, die finanzielle Leistungsfähigkeit und die bilanzielle Risikofähigkeit permanent zu beurteilen und damit das Unternehmen nachhaltig stabilisiert.

Diesen Zielsetzungen kann die Rechnungslegung aber nur entsprechen, wenn sie die wirtschaftliche Lage des Unternehmens so darstellt, dass sie Grundlagen für ein zuverlässiges Urteil bilden kann, wie das auch ausdrücklich in Art. 958 OR des neuen Rechnungslegungsrechts festgehalten ist.

2. Die Zielsetzungen der Rechnungslegung im Einzelnen

Traditionellerweise werden folgende Zielsetzungen der Rechnungslegung definiert:

a) Kapitalerhaltung

Der Grundsatz der Kapitalerhaltung soll bewirken, dass Ausschüttungen an Gesellschafter nur unter besonders qualifizierten Voraussetzungen und gestützt auf spezielle Verfahren erfolgen. Der Grundsatz der Kapitalerhaltung will verhindern, dass übertriebene Ausschüttungen an Gesellschafter stattfinden. Zu diesem Zweck bezeichnet die Gesellschaft ein spezifisches Eigenkapital. Dieses Eigenkapital ist ein Posten auf der Passivseite, das heisst, es bezeichnet die Mittelherkunft, nicht die Mittelverwendung. Das Eigenkapital kann auch als das Netto-Vermögen beschrieben werden. Es ist das Resultat, das sich ergibt, wenn das Fremdkapital vom Bruttovermögen abgezogen wird. Das Netto-Vermögen der Gesellschaft bezeichnet den Betrag, der für die Befriedigung der (bekannten) Gesellschaftsgläubiger nicht gebraucht wird. Dieser Betrag ist das Eigenkapital. Es beschreibt die Resistenz des Unternehmens gegen das Risiko der Verminderung von Aktiven durch Mittelabfluss oder Bewertungskorrekturen. Je grösser das Eigenkapital eines Unternehmens ist, desto resistenter ist das Unternehmen gegenüber diesen Risiken. Aus diesem Grund kann das Eigenkapital als „Risikoreserve“ der Gesellschaft bezeichnet werden. Die Kapitalerhaltung ist eine Zielsetzung der Vorschriften zur Rechnungslegung im Obligationenrecht, nicht aber der IFRS.

b) Rechenschaftsablegung

Die Rechnungslegung bezweckt auch die Rechenschaftsablegung: Die Leistungen des Managements, des Verwaltungsrats und der Gesellschaft und die Vorgänge im Unternehmen sollen retrospektiv beurteilt und dokumentiert werden können. In einem gewissen Sinn „arbeiten“ die Organe der Gesellschaft mit dem Geld der Gesellschafter, ähnlich einem Beauftragten, der für seinen Auftraggeber ein Geschäft besorgt. Wie der Beauftragte seinem Auftraggeber Rechenschaft schuldet, müssen auch die Organe der Gesellschaft gegenüber den Gesellschaftern Rechenschaft ablegen. Diese Parallelität zum Beauftragten zeigt sich im „Principal-Agent-Grundsatz“.Als Prinzip umschreibt er, dass Organe die Vorstellungen der Gesellschafter umsetzen müssen und dafür rechenschaftspflichtig sind. Die Rechnungslegung ist das zentrale Instrument dieser Rechenschaftsablage.

Die Funktion der Rechnungslegung als Rechenschaftsablegung kann auch das Verhalten des Managements und des Verwaltungsrats beeinflussen. In der Rechnungslegung nach Obligationenrecht gibt es Wege, um Fehlentscheide des Managements nicht in der Erfolgsrechnung und der Bilanz offenlegen zu müssen. Der Verzicht auf den Grundsatz einer strengen Einzelbewertung erlaubt dem Management, Werterhöhungen und Wertverminderungen innerhalb eines Bewertungspostens zu verrechnen. Grosszügige Vorschriften über die Bildung und Auflösung stiller Reserven können Ertragseinbrüche (jedenfalls kurzfristig) verschleiern helfen. Das führt dazu, dass die OR-Rechnungslegung das Management und den Verwaltungsrat dazu verleiten kann, Risiken einzugehen, die es nicht eingehen würde, wenn die Rechnungslegung sicherstellen würde, dass Fehlentscheide des Managements sofort und unverfälscht in der Rechnungslegung abgebildet werden.

c) Führungsinstrument und Entscheidungsgrundlage für Management und Verwaltungsrat

Das Management und der Verwaltungsrat sollen auf der Grundlage der Rechnungslegung und in Kenntnis der Risikofähigkeit des Unternehmens die richtigen Entscheide treffen. Dieser Anforderung kann die Rechnungslegung nur genügen, wenn sie möglichst aufschlussreich ist und versucht, der Wahrheit möglichst nahe zu kommen. Die zu tiefe Bewertung von Aktiven und eine zu hohe und unspezifizierte Behandlung von Risiken sind schädlich. Sie führen dazu, dass das Unternehmen sein Risikopotential (zu Lasten des Anspruchs der Aktionäre auf Gewinnstrebigkeit) nicht ausschöpft oder dass das Management (wissend, dass die Bewertungen vorsichtig sind) sich auf das Vorliegen hoher stiller Reserven verlässt und die Risikofähigkeit des Unternehmens überschätzt.

In der schweizerischen Rechnungslegungspraxis ist zwischen der Zielsetzung der Kapitalerhaltung und der Zielsetzung der Rechnungslegung als Führungsinstrument ein Widerspruch feststellbar. Die Zielsetzung der Kapitalerhaltung wird im Ergebnis durch falsche Zahlen am richtigen Ort begünstigt: sind die Aktiven zu tief und die Passiven zu hoch bewertet, wird die Zielsetzung der Kapitalerhaltung gefördert und die Bilanz ist im Ergebnis robuster, als das der Fall wäre, wenn das Unternehmen versuchen würde, Aktiven und Passiven möglichst genau zu bewerten. Im Hinblick auf die Zielsetzungen der Rechnungslegung als Führungsinstrument führen diese Unter- und Überbewertungen aber zu falschen Entscheidungen. Als Führungsinstrument brauchbar ist die Rechnungslegung nur, wenn sie versucht, die Werte im Unternehmen möglichst präzise abzubilden. Vorsichtsbezogene Bewertungsvorschriften haben in einer Rechnungslegung, die als Führungsinstrument dienen soll, nichts verloren.

d) Schutz des Kapitalmarkts und Anknüpfung für das Steuerrecht

Die Rechnungslegung dient nicht nur der Transparenz gegenüber bestehenden Aktionären, sondern auch gegenüber potentiellen Investoren und dem Kapitalmarkt Und ist schliesslich auch Anknüpfungspunkt für die Besteuerung des Unternehmens.